Keimlinge und Sprossen - angekeimte Samen
Von Stefanie Goldscheider
Ein Keimling schlummert in jedem Samen
Das trockene Samenkorn, egal ob es in Ähren, Hülsen oder Früchten herangewachsen ist, enthält neben einer Schale und Nährgewebe stets einen Keimling. Dieser Keimling enthält alle Anlagen der neuen Pflanze: Die Wurzel, den Stängel und die Blätter. Quillt das Samenkorn mit genügend Wasser auf, so vervielfacht es sein Gewicht und erwacht zum Leben. Es werden Pflanzenhormone und Enzyme gebildet, die die Speicherstoffe, also die Kohlenhydrate, die Fette und das Eiweiß des Nährgewebes nutzen und umwandeln. Aus Stärke entstehen Zuckerverbindungen, aus Fetten essenzielle Fettsäuren und aus Eiweiß essenzielle Aminosäuren. Außerdem entstehen Vitamine in ausgesprochen hoher Konzentration. Wirklich bemerkenswert ist das beim Vitamin C, einem Kennzeichen von Vitalität und Frische: im ruhenden Samenkorn ist es nicht enthalten, in wachsenden Sprossen von Getreide, Hülsenfrüchten, Kohlarten und Ölsaaten ist es hoch dosiert, genauso wie Vitamin E und die B-Vitamine. Das Samenkorn wandelt sich zu einer neuen Pflanze.
Keimlinge - von der Dauernahrung zum Vitalprodukt
Trockene Samen verderben praktisch nicht, sondern halten jahrelang, wenn sie luftig, kühl und trocken gelagert werden. Sie enthalten alle Nährstoffe, die man zum Leben braucht. Ein guter Vorrat im Winter, in Mangelzeiten, auf Abenteuerreise oder auf Seefahrt. Doch Samen sind hart, kaum kaubar, nicht schmackhaft, verursachen Blähungen und sind schlecht verdaulich. Viele sind roh und unverarbeitet sogar ungenießbar. Beim Keimen verändert sich alles: Aus harten Samen werden zarte, aromatische, vitalisierende Gemüse und Salate. Bei der Keimung und bei der Sprossenzucht werden Vitamine und Aminosäuren vom Keimling neu hergestellt. Durch die Keimung wird die biologische Wertigkeit der Aminosäuren höher und die Mineralstoffe werden besser verfügbar. Der Keimling bildet Omega-3-Fettsäuren. Die Nährstoffe werden aufgeschlossen. Substanzen, welche die Verdauung hemmen oder giftig sind und das Samenkorn in seiner Keimruhe geschützt haben, werden beim Keimprozess abgebaut. Die vielen Veränderungen bei der Keimung von Samenkörnern zeigt die Tabelle unten.
Veränderungen bei der Keimung von Samenkörnern |
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ungekeimt | gekeimt |
Samen hart, nicht kaubar | Keimlinge weich, essbar |
trocken | wasserhaltig und gequollen |
Keimruhe = reduziertes Leben | aktiv und vital |
Vitamin C entsteht bei der Keimung. Vitamin C-Gehalt verfünffacht sich | |
Vitamin B2 verdreifacht sich | |
Vitamin B6 verdoppelt sich | |
Vitamin B1 steigt um bis zu 100 % | |
Vitamin E steigt um bis zu 100 % | |
Folsäure verdoppelt sich | |
Vitamin K verzehnfacht sich | |
Omega-3-Fettsäure Linolensäure verdoppelt sich | |
Blähende Substanzen werden abgebaut | |
Phytinsäure wird abgebaut | |
Gerbstoffe (Tannine) werden abgebaut | |
Hämaggluttine werden abgebaut | |
Protease-Inhibitoren werden abgebaut | |
Aminosäuregehalt steigt | |
Aminosäurezusammensetzung verbessert sich - bei Getreide steigen die Gehalte der limitierenden Aminosäuren Lysin und Threonin - bei Hülsenfrüchten steigen die Gehalte der limitierenden Aminosäuren Cystein und Methionin |
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Enzymaktivität nimmt zu | |
Stärkegehalt nimmt ab | |
Zuckergehalt steigt | |
Kaloriengehalt nimmt ab | |
Ballaststoffgehalt steigt |
Sekundäre Pflanzenstoffe in Sprossen und Keimlingen
Pflanzen schützen sich selbst und ihren Nachwuchs - die Samen - durch die Produktion und Einlagerung diverser Substanzen. Einige dieser sekundären Pflanzenstoffe sind giftig wie etwa Blausäure und Alkaloide. Andere sind nur antinutritiv, das heißt sie hemmen die Nährstoffaufnahme und das Wachstum. Selbst unsere wichtigsten Nahrungspflanzen enthalten roh und unverarbeitet eine ganze Palette an antinutritiven Substanzen. Einige Inhaltsstoffe verursachen starke Blähungen oder erschweren die Verdauung. Andere schädigen die Darmschleimhaut. Einige blockieren die Aufnahme von Mineralstoffen und Spurenelementen aus der Nahrung.
Sekundäre Pflanzenstoffe sind
oft giftig und gesund zugleich.
Was Blutzellen angreift, kann
auch
Krebszellen vernichten, was Eiweiße
schädigt, kann Bakterien töten.
Allein die Dosis macht das Gift!
In sehr geringem Maß gibt es solche antinutritiven Substanzen auch in jeder Gemüseart. In niedrigen Dosierungen sind viele dieser sekundären Pflanzenstoffe allerdings sehr förderlich für die Gesundheit und zur Vorbeugung vor Krankheiten. Sie können Krebszellen bekämpfen, Cholesterin binden oder Bakterien unschädlich machen. Deswegen ist pflanzliche Nahrung für unsere Gesundheit unersetzlich. Selbst die Grundnahrungsmittel wie etwa Getreide enthalten antinutritive Substanzen, zumindest roh. Die Jahrtausende alten Erfindungen von Brot, Bier und Teigwaren folgten der gesundheitlichen Notwendigkeit einer Verarbeitung. Im alten China wurde schon vor 5000 Jahren entdeckt, dass Sojasprossen nicht nur sehr viel besser schmecken als Sojabohnen sondern auch, dass die schädlichen Wirkungen verschwunden sind.
Schon durch genügend langes Einweichen können die unerwünschten Nebenwirkungen bei allen Getreidearten und bei einigen Hülsenfrüchten vermieden werden. Das ist die Grundlage des berühmten Bircher Müslis oder des Frischkornbreis. Ein weiterer Abbau der antinutritiven Substanzen und Aufbau von Vitaminen erfolgt durch das Ankeimen. Die Müslis der neuesten Generation haben diese Anforderungen perfektioniert. Hier ist das Getreide vor dem Flocken angekeimt worden (Bild links). So wird aus Hafer und Gerste ein leistungssteigerndes Produkt!
Nur bei wenigen Keimsaaten, wie etwa Sojasprossen, ist dann noch leichtes Erhitzen erforderlich.
Achtung: Alkaloidhaltige Samen können nicht durch Keimen entgiftet werden! Keinesfalls essen darf man deswegen alle grünen Teile oder Sprossen von Pflanzenarten der Nachtschattengewächse, also von Tomaten, Kartoffeln, Paprika und Auberginen.
Antinutritive Substanzen - Giftigkeit oder Gesundheitsvorsorge |
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Antinutritive Sunstanz | Wirkungen | |
Phytinsäure | negativ | beeinträchtigt die Aufnahme von Kalzium, Magnesium, Eisen und Zink im Darm |
positiv | reguliert indirekt den Blutzuckerspiegel | |
enthalten | Getreide, Hülsenfrüchte, Kreuzblütler, Saaten | |
Protease-Inhibitoren | negativ | hemmen die Verwertbarkeit und Verdauung von Protein |
positiv | senken Darmkrebsrisiko | |
enthalten | Getreide, Hülsenfrüchte | |
Lektine = Hämagglutine | negativ | verklumpen rote Blutkörperchen, schädigen den Darm und lösen Darmschleimhautentzündung aus |
positiv | bekämpfen Tumore | |
enthalten | Getreide, Hülsenfrüchte, Kreuzblütler, Saaten | |
Glucosinolate | negativ | führen zur Kropfbildung, schädigen Schilddrüse, Leber, Nieren und Bauchspeicheldrüse |
positiv | mindern Wachstum hormonabhängiger Tumoren, wirken antimikrobiell | |
enthalten | Kreuzblütler, also Saaten von Rettich, Radischen, Brokkoli | |
Saponine | negativ | toxisch für das Blut, bewirken Hämolyse |
positiv | Wirken antimikrobiell. Binden Cholesterine, senken den Cholesterinspiegel, stimulieren das Immunsystem, hemmen die Entstehung von Dickdarmkrebs | |
enthalten | Hülsenfrüchte, Hafer, Spinat, Mangold und Rote Bete | |
Polyphenole = Tannine = Gerbstoffe | negativ | senken Verfügbarkeit und Aufnahme von Mineralstoffen (z.B. Eisen) im Darm. |
positiv | wirken stark antimikrobiell | |
enthalten | Getreide, Hülsenfrüchte, Kreuzblütler, Saaten | |
Blausäure = cyanogene Glycoside | negativ | in hohen Dosen extrem giftig. Blausäure hemmt die Sauerstoffübertragung in den Körperzellen und führt schnell zur inneren Erstickung |
positiv | keine positiven Wirkungen! | |
enthalten | Hirse, Hülsenfrüchte, Leinsaat, Samen von Stein- und Kernobst. !Verschwindet nicht durch die Keimung! Menge an Rohkost nicht übertreiben | |
Alkaloide | negativ | extrem giftig und gefährlich! Je nach Dosierung tödlich! |
positiv | nur exakt dosiert als medizinische Wirkstoffe wie Morphin, Strychnin oder Chinin oder anregend wie Koffein, Capsaicin, Theobromin oder als Sucht- und Rauschgifte wie Nikotin und Kokain | |
enthalten | Lupinen, Soja, Kartoffeln, Tomaten, Unkrautarten Achtung: die meisten alkaloidhaltigen Samen sind nicht als Keimsaaten geeignet! |
Welche Samen werden zu Keimlingen und Sprossen?
Hülsenfrüche
Hülsenfrüchte wie Bohnen, Erbsen und Linsen versorgen uns mit außergewöhnlich viel Magnesium, Eisen, Zink, Selen, Folsäure und den B-Vitaminen, also mit Nährstoffen, die in der Normalkost eher zu wenig enthalten sind. Vegetarier profitieren zusätzlich vom hohen Proteingehalt der Hülsenfrüchte oder Leguminosen. Als unverarbeitete Rohkost sind Hülsenfrüchte jedoch ungenießbar, mit Ausnahme der Zuckererbsen. Rohe grüne Bohnen sind giftig, weil die massiv enthaltenen antinutritiven Substanzen erst beim Kochen abgebaut werden. Das gleiche gilt für Bohnensprosse. Außer bei Grünen Bohnen reicht der Keimprozess, also die Sprossenzucht dafür aus, dass der Großteil der giftigen Substanzen abgebaut wird.
Bei gekeimten Kichererbsen und Sojabohnen sollte zusätzlich blanchiert werden, was auch bei Erbse, Linse und Mungobohne sowie der ähnlichen Adzukibohne die Verträglichkeit fördert. Vollkommen roh und ohne blanchieren können Sprossen von Alfalfa (Bild rechts, getrocknete Alfalfa-Sprosse), also den Samen der Luzerne, von Bockshornklee aber auch von Erdnüssen gegessen werden.
Blanchieren ist aber immer eine gute Idee, um die Keimbelastung zu eliminieren. Kolibakterien, die Erreger von teilweise schweren Durchfällen, sterben bei Temperaturen von 70° Celsius nach 2 Minuten bereits ab.
Getreide
Getreidearten, also Weizen, Gerste, Roggen, Hafer sowie Reis, Mais und Hirse sind die wichtigsten Säulen der Ernährung auf der Erde. Die traditionellen Zubereitungsweisen wie Kochen und Backen mit vorherigem Einweichen sorgen für den sicheren Abbau von Phytinsäure, Lektinen, Protease-Inhibitoren und Saponinen. Allerdings dienen die Getreide in gebackenem und gekochtem Zustand nicht der Vitaminversorgung und auch nicht der Versorgung mit hochwertigem Eiweiß. Die essenzielle Aminosäure Lysin ist im Getreide zu wenig enthalten. Bei der Keimung jedoch wird Lysin aus Speicherprotein gebildet. Dadurch steigt die Eiweißwertigkeit. Außerdem ist angekeimtes Getreide ein sehr guter Lieferant des gesamten Vitaminspektrums, inklusive Vitamin C. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Herstellung von Essener Brot [1], einem traditionellen Produkt aus angekeimtem Getreide.
Praxisnah und schmackhaft ist aber nach wie vor das Einweichen von Getreide um es dann als Müsli zu essen. Doch auch bei den als Rohkost bekömmlichen Getreidekeimlingen, darf die Hygiene nie außer Acht gelassen werden. Alle Keimlinge und Sprossen sind potenziell gefährdet, krankmachende Bakterien zu transportieren, die unter den idealen Keimbedingungen bei der Sprossenzucht (Wärme und Feuchtigkeit) genauso gut wachsen wie der Keimling selbst. Auch hier hilft kurzes Blanchieren oder professionelle Verfahren bei der Herstellung, wie bei neuen angekeimten und aktivierten Produkten (Bild links oben: angekeimte Gerstenflocken, links unten: Nastjas Müsli aus angekeimtem Getreide zur Frischhaltung vakuumiert).
Pseudo-Zerealien
Geschmacklich ähnlich wie Getreidearten sind die sogenannten Pseudocerealien: Buchweizen, Amaranth und Quinoa. Sie sind stärkereich. Daneben sind sie glutenfrei und haben einen hohen Mineralstoff- und Eiweißgehalt. Der hohe Gehalt an Saponinen erfordert aber eine Zubereitung. Das Einweichen und kurze Ankeimen bietet sich an und ergibt mild-nussig schmeckende Keimlinge. Aus diesen kurz gekeimten Keimlingen können sehr vorteilhaft getrocknete Naschereien und Knabbereien sowie Kracker und Kekse hergestellt werden. (Bild links: getrocknete Buchweizenkeimlinge).
Saaten
Komplizierter ist die Herstellung von Keimlingen aus ölhaltigen Samen, den sogenannten Saaten wie Leinsaat, Sesam, Chia oder Sonnenblumenkernen. Wegen des hohen Ölgehalts sind Saaten empfindlicher was den Verderb bereits vor der Keimung angeht (ranzig werden, Afflatoxine). Nur erstklassige spezielle Keimsaaten dürfen verwendet werden!
Wegen der starken Quellung und Schleimbildung bei Leinsaat und Chia aber auch bei Kresse und anderen Kreuzblütlern bietet sich bei diesen Saaten nur das Quellen lassen beziehungsweise kurze Ankeimen während einiger Stunden an. Auf die Bildung von Wurzeln und Keimblättern nach mehreren Tagen sollte man nicht warten, es sei denn man produziert Grünkraut (ähnlich Kresse) auf einer dafür geeigneten Unterlage beziehungsweise in Keimgeräten. Exakte Anleitungen finden sich in der Literatur.
Produkte aus angekeimten Saaten und Getreide
Durch die Auswahl erstklassiger Bio-Rohstoffe und eine professionelle sowie schonende Ankeimung sowie Rohkost-Verarbeitung unter 45 °Celsius entstehen hochwertige und sehr schamckhafte Keimlings-Produkte. So gibt es bei Taiga Naturkost zwei verschiedene Müsli-Mischungen mit Trockenfrüchten, Ivans Müsli und Nastjas Müsli, beide verfeinert mit wildwachsenden Zutaten aus der Taiga. Sie machen fit für den ganzen Tag. Dazu gibt es zwei verschiedene gekeimte Getreideprodukte, knackigen aktivierten Buchweizen, der sich zum Knabbern und als Topping eignet und glutenfrei ist, sowie angekeimte Gerstenflocken für kaltes oder warmes Porridge oder zur Aufwertung aller Müslis. Absolut empfehlenswert!
Anhang
[1] Die Essener waren eine jüdische Glaubensgemeinschaft, die schon vor 200 Jahren gesundheitsbewusst gelebt hat. Ohne Backtriebmittel können aus vorgekeimtem Getreide Fladenbrote hergestellt werden, die zur Wahrung der Rohkostqualität nur getrocknet werden müssen. Essener Brot gibt es ungebacken als Fladenbrot, das in der Sonne getrocknet wird oder gebacken mit Backtriebmitteln in Kastenform. Zur Herstellung werden Getreidekörner und Saaten für wenige Stunden angekeimt, dann zerkleinert und zu einem Teig geknetet.
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Buchtipps
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